Der SSR setzt Zeichen in der Gesundheitspolitik

Die Senioren-Organisatoren sehen den Neuerungen im Gesundheitswesen mit grosser Skepsis entgegen. Mit der Einführung der Fallkostenpauschalen mit der neuen Spitalfinanzierung per 1. Januar 2012 könnten vor allem polymorbide (mehrfach kranke) Senioren unterversorgt werden und am Krankenbett müssten die höheren Kosten eingespart werden, so die grösste Sorge. 175 Aktive aus der ganzen Schweiz hörten sich drei interessante Referate an und liessen sich dazu motivieren, die Einführung sehr kritisch zu begleiten.

Karl Vögeli, Zürich, Co-Präsident des SSR, führte mit einfachen Worten ins Tagesthema „Gesundheit“ ein: „Früher ging man, wenn man krank war, einfach zum Arzt und wenn nötig ins Spital. Das geht heute nicht mehr. Wir verstehen ja schon die Sprache nicht, mit der die Experten zu uns sprechen“.

Andreas Faller, Vizedirektor im Bundesamt für Gesundheit, zeigte in einem engagierten Vortrag die gesundheitspolitischen Prioritäten auf, nannte aber vorerst ein paar Zahlen zur volkswirtschaftlichen Bedeutung des Gesundheitswesens: ein Markt von 60 Milliarden Franken, 500’000 Arbeitsplätze, Wertschöpfung von 12% des Bruttoinlandproduktes. Das Zauberwort über den Massnahmen heisse „Sparen ohne Beeinträchtigung der Behandlungsqualität“. Die Umsetzung habe viele Eckpunkte: Risikoausgleich unter den Generationen, Einheitskasse in der Grundversorgung, integrierter Behandlungsweg (Management Care) mit gegenseitiger Transparenz unter allen Leistungserbringern mit einem Sparpotenzial von 5 Mia. Franken), neue Spitalfinanzierung mit Fallpauschalen, Finanzierung der Langzeitpflege, Preisregeln bei den Arzneimitteln, Regulierungen bis zu den Krankenkassenprämien. Andreas Faller rief in eindrücklichen Worten „alle Aktiven dazu auf, an der Effizienzsteigerung und Rationalisierung des Systems mitzuarbeiten“, denn sonst drohe „als eine nicht vertretbare Lösung“ die Rationierung der Dienstleistungen. Es dürfe doch nicht sein, dass dem alten Menschen medizinische Dienstleistungen aus finanziellen Gründen vorenthalten werden – er nannte das „zynisch, sozialethisch problematisch, barer Unsinn“. Nur eine bessere Qualität der Behandlung helfe Kosten sparen, betonte der BAG-Vertreter.
Es war an Beat Straubhaar, aufgrund seiner Erfahrungen bei der praktischen Umsetzung der Fallkostenpauschalen am Spital Thun für die Einführung des neuen Systems zu votieren. Unter Zuhilfenahme eines speziellen Patientenklassifikationssystems (abgekürzt DRG) würden die Patienten anhand von medizinischen und weiteren Kriterien wie Diagnosen, Behandlungen, Aufenthaltsdauer usw. in möglichst homogene Gruppen eingeteilt. Diese DRG seien kein Sparinstrument, sondern förderten den Wettbewerb. Wichtig seien der Einbezug der Grundversorger, kooperative Transparenz unter allen Dienstleistern, verbesserte Prozessqualität.
Für den vehementen Gegenpart sorgte Christian Hess, der Chefarzt Innere Medizin am Spital Affoltern am Albis. An erster Stelle der Revision stecke allein das Kostenargument. Sie sei verfrüht und verfehlt. Insofern komme der Widerstand der Senioren, aus Àrzte- und Spitalkreisen sowie aus der Politik zu spät. Man habe zwar gigantischen Aufwand betrieben, die Chance, etwas Gescheites zu erfinden, aber verpasst. Die Einführung der neuen Spitalfinanzierung mit den Fallkostenpauschalen bringe keine Transparenz, weil die Tarife trotzdem völlig unterschiedlich seien, sogar innerhalb eines Spitals je nach Krankenkasse. „Wollen Sie wirklich Wettbewerb rund um Ihre Behandlung?“ fragte Hess die Senioren. Wettbewerb bringe immer Mengenausdehnung und damit höhere Kosten. Zwischen privaten und öffentlich subventionierten Spitälern sei kein vergleichender Wettbewerb möglich. Dr. Christian Hess sagte deutsche Gegebenheiten voraus: Schwerkranke werden zum Kostenrisiko, der Spardruck demotiviert das Personal, Datenschutz wird unmöglich. Medizinisches Personal zweifelt am Sinn seiner Arbeit am Mitmenschen, weil emotionale Werte nicht mit ökonomischen Anforderungen gemessen werden können.
Am nachmittäglichen Podium nahmen neben den drei Referenten des Vormittags Nationalrätin Bea Heim, Erika Ziltener, die Präsidentin Schweizer Patientenstellen, Paul Rhyn von „Santésuisse“, Pierre Théraulaz, Präsident des Berufsverbandes der Pflegefachfrauen/männer, und Hansruedi Schönenberg teil. Positive und negative Aspekte wurden konkretisiert. Unter den Senioren überwiegen aber die Befürchtungen und Ängste. Die Revision mit den Fallkostenpauschalen sehe wirklich lieber „rentable“ Patienten. Unter dem Spardruck darf jedoch die Qualität der Pflege auf keinen Fall leiden.
Der Schweizerische Seniorenrat (SSR) wird die Einführung der Fallkostenpauschalen mit grösster Aufmerksamkeit begleiten und eine realistische und vernünftige Umsetzung verlangen. Das ist das Fazit seiner Herbsttagung in Biel.

Der Schweizerische Seniorenrat vertritt die wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Anliegen der älteren Menschen – gegenwärtig sind ihm rund 220’000 Senioren in der ganzen Schweiz angeschlossen. Der SSR ist vom Bundesrat eingesetzt als beratendes Organ der Behörden in Altersfragen.